Der Untertitel »Land unter der Herrschaft der Frauen« ist nicht willkürlich gewählt, sondern entstammt einem Zitat des griechischen Philosophen Herakleides Pontikos aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert. Er schrieb über die Lykier folgendes: »Sie haben keine Gesetze, sondern nur Gebräuche und stehen von alten Zeiten her unter der Herrschaft der Frauen.« Herakleides Pontikos stammte aus Herakleia Pontike (jetzt Karadeniz Eregli) im Nordwesten der Türkei, nicht sehr weit entfernt von Lykien, also muss man davon ausgehen, dass er Lykien kannte, folglich seine Information Hand und Fuß hat.
Die Region Lykien liegt im Südwesten der Türkei am Mittelmeer. Die Landschaft ist sehr gebirgig, hat jedoch zahlreiche fruchtbare Täler und Küstenregionen. Der wichtigste Fluss dieser Landschaft trägt den griechischen Namen Xanthos, heute heißt er auf Türkisch: Esen Çayi. Wichtige lykische Orte befinden sich in seinem breiten Talbecken.
Es gibt zahlreiche antike Nachrichten und Zitate, die auf die besondere Stellung der Frauen in der lykischen Gesellschaft hinweisen:
Der griechische Historiker Herodot erwähnte, dass die Lykier ihre Kinder nach der Mutter benannten. Der griechische Philosoph und Historiker Plutarch berichtet das gleiche.
Auch im Erbrecht hatten die lykischen Frauen Vorrechte. Ganz und gar ungewöhnlich für die Antike war die Erbfolge. Bei den Lykiern ging das Erbe an die Tochter. Außergewöhnlich war ebenfalls, dass die rechtliche Stellung der Mutter maßgeblich für die Stellung der Kinder war.
Im Mythos kommt die Vorrangstellung der lykischen Frauen ebenfalls zum Ausdruck, so beispielsweise in dieser Geschichte des Plutarch: »Als der griechische Held Bellerophon vom lykischen König schlecht behandelt wurde, wollte er mit Hilfe des Meeresgottes das lykische Küste durch eine mächtige Meereswelle überschwemmen. Die lykischen Männer beschworen Bellerophon er möge dies nicht tun, doch er ließ sich von ihnen nicht besänftigen. Danach kamen die lykischen Frauen zu ihm und hoben ihre Kleider. Aus Scham drehte sich Bellerophon zum Meer um und mit ihm verschwand auch die Meereswelle.«
In der Ilias, dem ältesten literarischen Werk Europas, findet sich ein Hinweis, welcher Lykien und das Frauenvolk der Amazonen in Beziehung setzt. Der griechische Held Bellerophon bekam in Lykien als drittes den Auftrag die Amazonen zu besiegen.
Im Original: »Drittens erschlug er die männerähnliche Schar Amazonen«
Bezeichnend für diese Kultur ist es, dass die wichtigste Gottheit der Lykier eine weibliche Göttin ist. Lykien hatte einen zentralen Kultort, der für ganz Lykien von herausragender Bedeutung war. Diese Kultstätte, welcher im Wesentlichen nur von Priester bewohnt war, hieß Letoon. Der Haupttempel war der griechischen Göttin Leto geweiht. Jene war die hellenisierte Version ihrer uralten Muttergöttin mit Namen Eni Mahanani. Die griechische Leto, Mutter von Apollon und Artemis, schien als sanftmütige Göttin der Fruchtbarkeit eine geeignete Repräsentantin ihrer uralten Muttergöttin zu sein. Bemerkenswerterweise ist »Lada« das lykische Wort für Frau. Die Namen Lada und Leto klingen sehr ähnlich.
Die Geschichte Lykiens reicht weit zurück. In den Schriften der Hethiter aus dem 2. Jahrtausend vor Chr. wird öfters das Land »Lukka« erwähnt, das mit ziemlicher Sicherheit mit Lykien identisch ist. So wird in hethitischen Quellen als wichtiger Ort in Lukka Tlawa oder Dalawa erwähnt. Dieser Ort ist das heutige Tlos (lykisch: Tlawa), eine der wichtigsten Städte Lykiens. Im Zuge von archäologischen Forschungen wurde festgestellt, dass bereits in der Bronzezeit an diesem Ort eine Siedlung existierte.
Das hohe Alter der lykischen Orte erkennt man an der Bauweise. So sieht man häufig kyklopische Städteumwallungen und in den Felsen gearbeitete Gebäude, Treppenanlagen, tiefe Nischen, Rinnen, Zisternen. Viele dieser Merkmale sind in den Felsmonumenten der Thermodonregion in der Nordtürkei, so in Tekkeköy sowie in Karpu Kale, aber auch auf der griechischen Insel Lemnos in Myrina wiederzuerkennen.
Quasi ein Alleinstellungsmerkmal der Lykier ist ihre Grabkunst. Wenn man heute Lykien besucht, wird man überwältigt von der großen Anzahl an beeindruckenden Grabmonumenten. Es sind einerseits mächtige Steinsarkophage, oft in großer Zahl gruppiert - wie ein Friedhof, andererseits in die Felswand geschlagene Grabkammern, häufig mit eindrucksvoller Tempelfassade. Diese Felsgräber sind manchmal in schwindelerregender Höhe, etwa in Pinara, wo man sich wundert, wie es überhaupt möglich war mit den damaligen Werkzeugen solche prächtigen Monumente an so unzugänglichen Plätzen zu errichten. Weiters sind auch Pfeilergräber häufig.
Die Totenverehrung muss für die Lykier von eminenter Bedeutung gewesen sein. Schon in der Ilias wird auf die besondere Beziehung der Lykier zum Tod hingewiesen. Der lykische Fürst Glaukos zitiert folgendes über die Endlichkeit des Lebens:
Blätter verweht zur Erde der Wind nun, andere treibt dann
Wieder der knospende Wald, wenn neu auflebt der Frühling.
So der Menschen Geschlecht, dies wächst und jenes verschwindet.«
In diesem Zusammenhang passt folgende Erzählung: Im Zuge der Eroberung Lykiens durch die Perser wurden die Xanthier im Kampf besiegt. Die überlebenden Lykier wollten sich aber nicht in Gefangenheit begeben, sondern verübten kollektiven Selbstmord.
Ein ausführlicher Bericht mit den Forschungsergebnissen unserer Forschungsreise »Lykien 2024« ist in Arbeit.
Die verlorene Geschichte der Amazonen
Neueste Forschungserkenntnisse über das sagenumwobene Frauenvolk
Geheimnisvolles Lemnos. Die von Frauen beherrschte Insel
This site is also available in English.
Copyright © 1997-2025 Amazon Research Center